Was ist Integrität? Der Duden bietet uns zur Erklärung Unbescholtenheit, moralische Makellosigkeit oder Unbestechlichkeit an, hergeleitet aus dem lateinischen „integer“ = unberührt, unversehrt. Das klingt dermaßen nach einem Nachruf, dass man sich kaum vorstellen kann, wie wir das im Alltag umsetzen sollen.
Dabei sind die aus der Integrität entstehenden Fragen durchaus praktischer Natur: Wie schlagen wir eine Brücke zwischen Lebenssinn und unserem Glück? Wie finden wir heraus, welche Ziele uns erfüllen können? Wie erkennen wir, wer wir sind, und wo wir Verrat üben an uns selbst, wo wir verinnerlichten Forderungen der Gesellschaft an uns folgen statt unserem eigenen Herzen?
Integrität – Selbsthilfe
Über diese Fragen denken Menschen seit Beginn unserer Geschichte nach, ebenso Religionsstifter und Philosophen. Und wem das zu schwere Kost ist, kann aus mundgerecht aufbereiteten Weisheitshäppchen von Achtsamkeitsblogs und, mehr oder minder unerträglichen, Bestseller-Ratgebern bedienen. Von den Veden über Marc Aurel, von Buddha bis zu den Kirchenvätern – alles ist vorverdaut verfügbar. Martha Becks neues Buch „The Way of Integrity: Finding the Path to Your True Self“ ist da keine Ausnahme. Sie argumentiert oberflächlich und schmückt ihren Unfug mit Anleihen aus ausgerechnet Dantes Commedia Divina. Wenn Sie Beck nicht kennen: sie ist eine wirtschaftlich sehr erfolgreiche Lebensberaterin und Bestseller-Autorin. In The Oprah Magazine schrieb sie fast 20 Jahre lang eine Selbsthilfekolumne. Sie bedampft uns mit Küchentischphilosophie, nach der unsere „wahre Natur“ in einer vollständigen Übereinstimmung von Körper und Geist, Herz und Seele bestünde. Dann wären wir nicht innerlich gespalten, belögen uns nicht selbst oder handelten auf eine Weise, die sich irgendwie verkehrt anfühlt. Integrität definiert sie, in unnachahmlicher Trivialität, als die oder der zu sein, wer wir eben seien, ehrlich und aufrichtig durch und durch. Warum ich sie überhaupt erwähne, werden Sie weiter unten herausfinden.
Integrität – Philosophie
Dabei haben uns Philosophen, spätestens seit dem 18. Jahrhundert, eine deutlich handfestere Definition von Integrität geliefert. Demnach ist Integrität eine Forderung nach möglichst weitgehender Übereinstimmung zwischen unseren eigenen Idealen und Werten und unserem Reden und Handeln. Zum jeweiligen Wertesystem unseres Lebens gibt und gab es von verschiedenen Denkern sehr unterschiedlich Vorschläge: religiöse, politische oder humanistische. Integrität verlangt aber, dass wir in dem Bewusstsein handeln, dass sich unsere persönlichen Überzeugungen, Maßstäbe und Wertvorstellungen in unserem Verhalten äußern. Integrität deshalb auch „Treue zu sich selbst“ genannt worden. Es geht aber nicht nur um uns. Integrität achtet aber ebenso die Würde unserer Mitmenschen und strebt danach, sie nicht zu verletzen.
Das Gegenteil der Integrität wären Handlungen, die unseren Werten zuwiderlaufen oder ein Verhalten, das sich nicht von eigenen Werten und Prinzipien, sondern von Drohungen oder Lockungen leiten lässt. (Die Bundesregierung scheint in Sachen Corona von wenig Integrität ihrer Bürger auszugehen, denn sie setzt bekanntlich regelmäßig auf Drohungen und Belohnungen statt auf Argumente oder gar Werte.) Im einen, wie im anderen Fall sind Gewissensbisse, Scham und Schuldgefühle die Folge.
Verlust der Integrität
Wenn wir unsere Integrität einbüßen, entfernen wir uns zwar nicht von unserer „wahren Natur“. Aber es fällt nicht schwer einzusehen, dass Gefühle, Gesundheit, Beziehungen, Arbeit und im Grunde alle Aspekte unseres Wohlbefindens in Mitleidenschaft gezogen werden können von unserem schlechten Gewissen. Hier kommt die Selbstfindung ins Spiel. Welche Werte sind uns wichtig und in welcher Situation? Woher haben wir diese Werte? (Die wenigsten „erfinden“ wir selbst.) Wen achten wir, wenn wir nach diesen Werten handeln?
Niemand legt uns erfolgreicher herein als wir selbst. Wir haben oft Schwierigkeiten zu erkennen, wann und wie wir uns selbst belügen – wie oft wir uns anpassen und Dinge sagen, die wir nicht wirklich glauben, oder Dinge tun, die uns nicht einmal Spaß machen. Dann beugen wir uns Gruppennormen oder normativen sozialen Einflüssen, wie das die Sozialpsychologen nennen.
Diese Aushöhlung unserer Integrität durch Konformismus ist fast immer unbewusst. Wir sind nicht eigentlich böse. Im Gegenteil, die meisten von uns sind vollkommen reizende Menschen. Wir bemühen uns um Verbundenheit mit und Anerkennung von anderen, indem wir die Lebens- und Spielregeln unserer jeweiligen Kulturen (und Gemeinschaften) einhalten. Manchmal fühlen wir uns damit aber miserabel, obwohl wir im Ansehen unserer Mitmenschen sehr gut dastehen.
Für die Selbstfindung gibt es verschiedene Übungen, die uns helfen verinnerlichten sozialen Druck aufzudecken und zu prüfen, ob wir ihm aus Gewohnheit oder von ganzem Herzen folgen wollen. Viel Wissen dazu findet sich in meinem Buch: Selbstfindung & Selbstorganisation für Führungskräfte. Das Workbook mit Übungen und Checklisten zu den Kapiteln ist bereits beim Verlag in Vorbereitung. Und nicht zu spoilern, hier eine Übung aus, dem, meiner Meinung nach, einzig brauchbaren Abschnitt des Buches von Martha Beck.
Integrität – Übung
Sprechen Sie nacheinander die folgenden Aussagen vor sich hin und vergegenwärtigen Sie sich, was in Ihnen vorgeht dabei. Ihr Stolz kann auflodern, Ihr innerer Kritiker kann zur Höchstform auflaufen. Vielleicht entspannt sich Ihr Körper auch ein wenig, trotz der scheinbaren Negativität einer bestimmten Aussage? Vertieft sich Ihr Atem? Spüren Sie, wie sich ein Kampf in Ihrem Bauch, Ihrem Herzen, Ihrem Kopf beruhigt?
Mein Leben ist nicht perfekt.
So wie die Dinge stehen, bin ich unzufrieden.
Ich fühle mich nicht gut.
Ich bin traurig.
Ich bin ärgerlich.
Ich habe Angst.
Ich bin unruhig.
Ich weiß nicht, wo ich hingehöre.
Ich bin mir nicht sicher, welche Richtung ich einschlagen soll.
Ich weiß nicht, was ich tun soll.
Ich brauche Hilfe.
Beck sagt, das Gefühl, etwas habe erledigt mit dem Aussprechen der Sätze, sei eine Bestätigung. Selbst eine minimale Lockerung sei ein Hinweis auf die Wahrheit des Satzes für uns. Irgendetwas gerät in Schwingung in uns.
Dann folgen Sie der Aussage und gehen das Problem an. Das ist ein sehr praktischer Weg, emotional unser Gefühl von Integrität zu überprüfen – um Ursachen von Kummer zu erkennen und letztendlich zu mehr Freude und Sinn in unserem Leben zu gelangen.
Quellen:
Beck, Martha: The Way of Integrity: Finding the Path to Your True Self.
Stemper, Dirk: Selbstfindung und Selbstorganisation für Führungskräfte
Wikipedia: Integrität (Ethik)