Es gibt Philosophen, die leugnen, dass wir Menschen einen freien Willen besitzen. Sie argumentieren, dass unsere Entscheidungen von Kräften bestimmt werden, die außerhalb unserer endgültigen Kontrolle liegen – vielleicht sogar seit dem Urknall vorbestimmt.
Freier Wille: das Rätsel
Es gibt Philosophen, die leugnen, dass wir Menschen einen freien Willen besitzen. Sie argumentieren, dass unsere Entscheidungen von Kräften bestimmt werden, die außerhalb unserer endgültigen Kontrolle liegen – vielleicht sogar seit dem Urknall vorbestimmt. Deswegen könne niemand jemals vollkommen für seine Handlungen verantwortlich sein. Wenn sich zeigen ließe, dass der freie Wille nicht existiert, müssten wir zu dem Schluss zu kommen, dass Lob oder Tadel für Handlungen gleichermaßen unlogisch seien, da ja niemand nicht wirklich für sein Handeln verantwortlich wäre. Ebenso wären Schuldgefühle wegen eigener Missetaten, Stolz auf eigene Leistungen oder Dankbarkeit für die Freundlichkeit ungerechtfertigt. Können wir Verbrechen bestrafen, wenn Täter keine endgültige Wahl bei ihrem Verhalten hatten? Jede liebevolle oder respektvolle Geste muss freiwillig sein, damit sie zählt. Wie stehen romantische Liebe, Freundschaft und nachbarschaftliche Höflichkeit da ohne freie Entscheidung?
Das Rätsel des freien Willens besteht nicht in seiner Schwierigkeit. Aber die Erfahrung des freien Willens – das Gefühl, dass wir Urheber unserer Entscheidungen sind – ist für jeden von uns so grundlegend, dass es schwierig ist, für eine Überlegung darüber genügend Abstand dazu gewinnen. Angenommen, Sie fühlen sich eines Nachmittags mäßig hungrig und finden in der Obstschale in Ihrer Küche einen Apfel und eine Banane vor. Zufällig wählen Sie die Banane. Aber es scheint absolut offensichtlich, dass Sie stattdessen den Apfel wählen konnten – oder nichts oder beides. Das ist der freie Wille.
Aber wenn all das wahr ist, wo ist dann Raum für freien Willen für eine Wahl zwischen Apfel und Banane? Um eine Wahl treffen zu können, die nicht nur das nächste Glied in der ununterbrochenen Kette von Ursachen ist, müssten wir in der Lage sein, uns aus der ganzen Ursachenkette zu befreien. Damit würden wir aber zu einer gespenstischen Existenz, die von der materiellen Welt zwar getrennt wäre, aber sie auf mysteriöse Weise immer noch beeinflussen könnte. Aber natürlich können wir das Universum nicht verlassen, uns lösen von allen Atomen, aus denen es besteht, und den Gesetzen, die es regieren. Wir sind Atome in unserem Universum, und denselben vorhersehbaren Gesetzen unterworfen.
Nichts könnte offensichtlicher sein. Und doch sind Philosophen und Wissenschaftlern, aus unterschiedlichen Gründen, anderer Ansicht. Einer der schärfsten Kritiker des freien Willens, der Evolutionsbiologe Jerry Coyne, findet, diese Art von freiem Willen werde durch die Gesetze der Physik ausgeschlossen. Psychologen wie Steven Pinker und Paul Bloom sind sich mit dem verstorbenen Stephen Hawking oder auch V. S. Ramachandran einig darin, dass der freie Wille ein „inhärent fehlerhaftes und inkohärentes Konzept“ sei. Yuval Noah Harari erklärt den freien Willen gar zu einem anachronistischen Mythos, der in der Vergangenheit zwar den Menschen zum Kampf gegen Tyrannen oder Unterdrückung motiviert habe, aber durch die moderne Data Science obsolet geworden sei. Sie kenne uns besser als wir uns selbst und sei somit in der Lage, unsere Entscheidungen vorherzusagen und zu manipulieren.
Die Argumente gegen den freien Willen reichen Jahrtausende zurück, aber Fortschritte in den Neurowissenschaften in den letzten Jahrzehnten haben die Zweifel an dem Konzept erneut auf die Tagesordnung gesetzt. Seit den 1980er-Jahren haben verschiedene neurowissenschaftliche Erkenntnisse beunruhigende Hinweise darauf geliefert, dass unsere sogenannten freien Entscheidungen tatsächlich einige Millisekunden oder sogar noch viel länger in unserem Gehirn entstehen könnten, bevor wir uns des Gedankens überhaupt bewusst werden.
Die Logik des sogenannten Determinismus scheint kalt und unbeugsam: Alles, was jemals auf der Welt passiert, muss vollständig durch Dinge verursacht worden sein, die zuvor passiert sind. Und diese Dinge müssen ihrerseits wiederum durch Dinge verursacht worden sein, die vor ihnen geschehen sind – und so weiter, rückwärts bis zum Beginn der Zeit: Ursache für Ursache, alle nach den vorhersehbaren Naturgesetzen, auch wenn wir nicht alle kennen. Diesen Gedanken auf die Physik von Verbrennungsmotoren anzuwenden, scheint folgerichtig. Aber dann muss auch in der Welt unserer Vorlieben, Entscheidungen und Absichten „eins zum anderen“ führen. Zumindest kommen Entscheidungen und Absichten kommen durch die Aktivität von Neuronen zustande. Aber warum sollte ein Neuron, anders als ein Stein, von den Gesetzen der Physik ausgenommen sein?
Im Beispiel einer Obstschale gibt es physiologische Gründe für unser Hungergefühl. Und es gibt Ursachen in unseren Genen, unserer Erziehung oder unserer aktuellen Umgebung, dass wir uns für Früchte statt Donuts entscheiden. Auch unsere Bevorzugung der Banane muss durch vorhergehende Vorgänge verursacht worden sein, mindestens von Nervenzellen in unserem Gehirn, was wiederum auf andere Ursachen zurückgeht – und so weiter in einer ununterbrochenen Kette, zurück bis zu unserer Geburt, der Begegnung unserer Eltern, deren Geburten und schließlich dem Ursprung des Kosmos.
Freier Wille und Laplaces Dämon
Der Franzose Pierre-Simon Laplace beschrieb 1814 diese Sicht auf den freien Willen am deutlichsten: Wie kann es einen freien Willen in einem Universum geben, in dem Ereignisse wie ein Uhrwerk ineinandergreifen? Sein Gedankenexperiment lautete wie folgt: Wenn ein hypothetisches hochintelligentes Wesen – oder ein Dämon – die Position jedes Atoms im Universum zu einem bestimmten Zeitpunkt, zusammen mit jedem Gesetz kennen könnte, das deren Interaktionen regelt, könnte es die Zukunft in ihrer Gesamtheit vorhersagen, bis auf die kleinste Einzelheit. Sie würden zwar denken, Sie hätten sich frei entschieden, Ihren Partner zu heiraten, oder einen Salat anstelle von Pommes zu wählen. Tatsächlich hätte Laplaces Dämon es die ganze Zeit gewusst, indem er aus der endlosen Kette von Ursachen geschlossen hätte. Für ihn, sagte Laplace, könnte nichts ungewiss sein, und die Zukunft wäre ihm ebenso wie die Vergangenheit gegenwärtig.
Nun hat aber Quantenphysik seit Laplace gezeigt, dass einige Ereignisse auf der Ebene von Atomen und Elektronen wirklich zufällig sind. Auch der laplacesche Dämon könnte sie nicht vorhersagen. Aber Kritiker des freien Willens behaupten, dass darin kein entscheidender Unterschied liege. Diese winzigen Schwankungen hätten nur geringe Auswirkungen auf das Leben. Und auf jeden Fall sei die Abhängigkeit unserer Entscheidungen vom zufälligen Verhalten von Elektronen nicht geringer als die von angenommenen Ursache-Wirkungsbeziehungen und deren Gesetzen.
Die schwindelerregende Folgerung aus den Argumenten der Skeptiker lautet, dass jede Entscheidung, die wir jemals treffen, im Voraus getroffen worden sein könnte. Im Beispiel einer Obstschale sind sich die meisten Philosophen einig, dass Sie keine andere Auswahl hätten treffen können, wenn die Ursachenkette bis zum Moment der Wahl genau gleich war. Stattdessen behaupten sie, dass dieser Umstand gar keine Rolle spielt. Determinismus und freier Wille sind vereinbar. (Es gibt viele andere Positionen in der Debatte, darunter viele Christen, die glauben, wir hätten wirklich einen „gespenstischen“ freien Willen, und andere, die das ganze sogenannte Problem für eine Verwirrung von Kategorien halten.)
Um den genannten Standpunkt zu verstehen, dürfen wir den freien Willen nicht als eine Art Magie, sondern müssen ihn als eine Art von Fähigkeit betrachten – eine, die die meisten Erwachsenen die meiste Zeit besitzen. Wir haben so viel freien Willen, wie wir zu haben glauben, und ebenso eine Handlungsfreiheit, die wir zu haben glauben, wenn wir in der richtigen Umgebung bestimmte Fähigkeiten haben. Dann ist Freiheit des Willens unsere Fähigkeit, über unsere Wünsche nachzudenken, dann auf sie zu reagieren und manchmal das zu bekommen, was wir wollen. Wenn wir die Banane auswählen, indem wir überlegen, welche Frucht von beiden wir möchten, und sie dann nehmen, befinden wir uns eindeutig in einer anderen Situation als wenn wir Banane essen, weil uns jemand dazu auffordert, der eine Pistole auf uns richtet. In beiden Situationen ist unsere Wahl das Ergebnis einer ununterbrochenen Kette von Ursachen, die bis in die Anfänge der Zeit zurückreichen. Aber die Bananenauswahl ist in der ersten beschriebenen Situation deutlich freier als in den anderen.
Zugegeben, diese Sichtweise des freien Willens ist möglicherweise weniger aufregend. Daraus folgt jedoch nicht, dass sie wertlos sei – im Gegenteil. Für unsere Erfahrung ist das die einzige Art von freiem Willen. Und es ist der einzige freie Wille, der es wert ist, gewollt zu werden. Wir erleben den Wunsch nach einer bestimmten Frucht, wir handeln danach und wir erhalten die Frucht. Wir sind stinkwütend auf unser Gegenüber und entscheiden uns, mehr oder weniger freiwillig gegen den Versuch, ihr oder ihm den Kopf abzureißen.
Wenn man auf diese Weise an den freien Willen denkt, werden auch die oben erwähnten, berüchtigten Experimente des amerikanischen Neurowissenschaftlers Benjamin Libet in den 80er-Jahren anders deutbar, die für wissenschaftlicher Beweis dafür gehalten werden, dass es keinen freien Willen gebe. Libet verband seine Probanden mit einem Gehirnscanner und bat sie, ihre Hände in einem Moment ihrer Wahl zu beugen. Die Bildgebung schien zu zeigen, dass ihre Wahl anhand der Gehirnaktivität 300 Millisekunden erkennbar war, bevor sie eine bewusste Entscheidung trafen. (Andere Studien haben eine Aktivität bis zu 10 Sekunden vor einer bewussten Entscheidung angezeigt.) Er bezweifelte daher, dass diese Probanden ihre Entscheidungen frei getroffen hätten, da die Untersucher die Entscheidungen 300 Millisekunden im Voraus kannten. Aber wie alles andere sind unsere bewussten Entscheidungen Ergebnis einer kausalen Kette neuronaler Prozesse. Daher geht natürlich Gehirnaktivität dem Moment voraus, in dem wir uns ihrer bewusst werden.
Freier Wille und Verantwortung
Aus dieser bodenständigen Perspektive besteht auch kein Grund zur Frucht, dass wir niemals jemanden für seine Missetaten verantwortlich machen oder andere für ihre Leistungen loben könnten. Stattdessen fragt die Rechtsprechung, ob jemand die normale Fähigkeit hatte, rational zu wählen und über die Auswirkungen seiner Handlungen nachzudenken. Wir sind uns alle einig, dass Neugeborene diese Fähigkeit noch nicht entwickelt haben. Wir beschuldigen wir sie nicht, wenn sie uns mitten in der Nacht wecken. Und wir glauben, dass die meisten nichtmenschlichen Tiere es nicht besitzen. Also sind wenige von uns sind empört über eine Wespe, weil sie uns gestochen hat. Wir schlagen oftmals trotzdem danach. Für die Rechtspflege ist entscheidend, dass wir wissen, was wir tun, und dass wir wissen, dass das, was wir tun, falsch ist, und es trotzdem tun. Wir haben die Fähigkeit, die wir „freien Willen“ nennen – und nutzten sie.
Es gibt aber keinen Entscheider, der in unserem Kopf „wohnt“. Warum stellen wir unsere Kaffeetasse ab und gehen genau in dem Moment zur Dusche, in dem wir das tun? Wir nehmen stillschweigend an, die Absicht, dies zu tun, wäre eben dann entstanden, zweifellos verursacht durch alle Arten von Aktivitäten in unserem Gehirn. Und genau das Gleiche gilt für die wichtigeren Entscheidungen, die etwas über die Art von Person auszudrücken, die wir sind: ob wir beispielsweise an einer Beerdigung teilnehmen oder welche von zwei Karrierechancen wir wählen sollen. Wir können Stunden oder sogar Tage damit verbringen, eine Entscheidung zu treffen, bis zu einem unvorhersehbaren Zeitpunkt Umstände oder eine Frist eine Lösung erzwingen. Wenn Sie nach innen schauen, gibt es keine Spur eines internen Kommandanten, der autonom Entscheidungen trifft. Solche Sichtweisen reichen vom Buddhismus bis zu David Hume. Oder wie Arthur Rimbaud 1871 in einem Brief an einen Freund schrieb: „… ich wohne der Entfaltung meines Gedankens bei: ich sehe ihn an, ich höre ihm zu …“
In einer Reihe von Untersuchungen 2008 der Psychologen Kathleen Vohs und Jonathan Schooler erwiesen sich Teilnehmer, die an der Existenz des freien Willens zweifelten, wesentlich häufiger bereit als andere, in einem Test zu schummeln, bei dem es um Geld ging. Andere Untersuchungen stellten bei weniger festem Glauben an den freien Willen weniger Hilfsbereitschaft, ein geringeres Engagement in Beziehungen und weniger Dankbarkeit fest. (Allerdings konnten die Ergebnisse von Vohs und Schooler nicht wiederholt werden und wurden daher infrage gestellt.)
Freiheit ist eine schwere Last, eine große und seltsame Beschwernis für den Geist. Sie ist nicht einfach. Sie ist kein Geschenk, sondern eine getroffene Wahl, und die Wahl kann hart sein.
~ Ursula LeGuin
Freier Wille: Determinismus ist nicht Fatalismus
Es gibt keinen Grund, Determinismus mit Fatalismus zu verwechseln – daraus, dass wir keinen freien Willen haben, folgt doch gar nicht, dass unsere Entscheidungen keine Rolle spielen und wir uns nicht die Mühe machen müssten, gute und gerechte Entscheidungen zu treffen. Es bleibt enorm wichtig, was wir unseren Kindern zu essen vorsetzen, oder ob wir vor dem Überqueren einer stark befahrenen Straße sorgfältig den Verkehr prüfen. Die Skeptiker des freien Willens behaupten lediglich, dass wir diese Entscheidungen nicht frei treffen können.
Nutzen Sie Ihren freien Willen und entscheiden Sie, ob Sie den freien Willen als irrelevant für das wirkliche Leben abtun, da wir ja nicht anders können. Oder ob Sie das Gefühl leben wollen, einen freien Willen zu haben, unabhängig von der philosophischen Wahrheit.
Anders als uns neoliberale Doktrinen weismachen wollen, führt freier Wille aber auch nicht ohne Einwirkung gesellschaftlicher Umstände und konkreter Machtverhältnisse in Versagen und selbstverursachtes Elend.
„Eigensinn kann aber auch in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes vorkommen … als Mut zur Eigenständigkeit, als abenteuerliche Expedition zu uns selbst, als Erforschung und Entfaltung unserer persönlichen Anlagen, wenn es sein muss im Widerstand gegen den Konformitätsdruck von außen, um das bewahren und realisieren zu können, was uns ausmacht: das in jedem Menschen unterschiedliche und ganz unverwechselbare Potenzial, welches die Biologen als den genetischen Code bezeichnen. Denn einen Menschen wie jeden von uns hat es vorher noch nie gegeben und wird es auch nicht mehr geben. Die Natur kennt keine Kopien. Jeder von uns ist ein Original. Als Originale kommen wir zur Welt. Dass danach die meisten als Kopien des jeweiligen Zeitgeistes enden, war eigentlich nicht vorgesehen.“
Volker Michels
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