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Ehrgeiz ist gesund. (Aber nicht um seiner selbst willen.)

Als die Pandemie ausbrach, haben wir alle irgendwie Angst oder Stress erlebt. Ein nagendes Gefühl, dass unser Leben, ohne unser Zutun, über den Haufen geworfen wurde. Auch wenn es weit hergeholt scheint, die Belastung, die viele Mitarbeiter*innen durch die Pandemie erleben, ist nicht weit entfernt vom Burnout und kann zu Angstzuständen und Panikattacken führen.

Ehrgeiz und Werte

Die Arbeitspsychologie zeigt uns, dass mit dem ersten Lockdown wurden unsere „psychologischen Verträge“ mit der Arbeit über Nacht nichtig wurden. Über den schriftlichen Vertrag hinaus schließen wir alle eine Art psychologischen Vertrag, der unsere Erwartungen an die Arbeit und die Erwartungen der Organisation an uns abgleicht und regelt. 

So gibt es Organisationen, die es für selbstverständlich halten, dass ein Geschäftstermin Vorrang vor einem Familienereignis hat, oder, die Erfolg als Jagd nach Beförderungen, Boni und Auszeichnungen definieren. Durch die Pandemie wurden alle solchen Erwartungen tiefgreifend erschüttert. Arbeit 4.0 hatte die Menschen, ihre Bedürfnisse und Fähigkeiten schon vorher in den Mittelpunkt gerückt. Spätestens die Pandemie hat vor Augen geführt, wie unverzichtbar Menschen sind, im Gegensatz zu bloßen professionellen Rollen. 

Daher war für viele die Pandemie ein nützlicher Weckruf. Psychische Gesundheit am Arbeitsplatz rückt ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Wer vor den Lockdowns in Bezug auf Karrieremeilensteine sehr ehrgeizig war, hat unter Umständen bemerkt, dass das gar nichts ist für sie oder ihn. Auszeichnungen und Beförderungen werden zwar oft als Maßstab für den Erfolg anderer herangezogen – aber nicht unbedingt für unseren eigenen. 

Zwar kann, in manchen Fällen, das, was sich wie ein Verlust an Ehrgeiz anfühlt, einfach nur Erschöpfung sein. Es war eine anstrengende Zeit – viele von uns könnten einfach Urlaub gebrauchen. In anderen Fällen gab es jedoch eine reale Verschiebung von Werten. Männer haben mehr Zeit zu Hause verbracht und viele von uns mögen das. Lange Zeit stand es vor allem Frauen offen, um ehrlich über Anforderungen aus Familie und Beruf zu sprechen. (Dafür wurden ihnen andererseits auch Karrierepfade mehr oder minder offen verlegt.) Nun ist es auch für Männer parkettfähig, solche Themen anzusprechen. 

Ehrgeiz und Erfolg

Wir leben in einer zerbrechlichen Hülle unseres eigenen Erfolgs, mindestens, solange es gut läuft. Wenn es schief geht, ist es aber regelhaft nicht unser Bonus, um die wir uns Sorgen machen. Es ist unser Kollege, der gerade Vater geworden ist, von dem wir uns möglicherweise trennen müssen. Oder unsere Kollegin, bei der gerade Brustkrebs diagnostiziert wurde. Nichts relativiert die Dinge schneller als Sorgen. Und, wer gezwungen ist, mit weniger auszukommen, muss sich auch die Frage vorlegen, wie viel man wirklich braucht.

Der Drang, „klarzukommen und voranzukommen“, ist dabei gar nicht durch die Evolution in uns verankert, wie oft behauptet wird. Dafür ist er aber tief eingewoben in die Leistungsgesellschaft. Dabei gibt es viele Arten von Status, die wir anstreben können – sozialer Status, finanzieller Status, sexueller Status, moralischer Status usw. – und wir können mehr als ein Spiel spielen. Was wir nicht dürfen, ist gar kein Status-Spiel zu spielen. Umsatz, Gewinn und Wachstum gelten nicht mehr nur für erfolgreiche Wirtschaftsunternehmen, sondern auch für Menschen. Zumindest bringen sie uns Geld und Wertschätzung ein. Dabei ist aber nur unser Ego angestachelt. Zufriedenheit ergibt sich daraus nicht. Das Menschenbild der Leistungsgesellschaft ist individualistisch. Jeder ist entweder erfolgsorientiert und ehrgeizig oder ein Versager. Er wird zum Niemand. Man kann es verdecken, wie man will, die Leistungsgesellschaft stachelt unseren Egoismus an.

Jetzt hat die Pandemie viele aufgerüttelt. Die Folgen der Politik sorgen in der Wirtschaft für das, was hyperambitionierte Menschen als Burnout erleben. Menschen überarbeiten sich gedankenlos. Sie werden krank. Sie finden heraus, was ihre neuen Prioritäten sind und verändern ihr Leben mit einem neuen Fokus auf Gesundheit. Das ist so ziemlich das, was gerade mit der gesamten Wirtschaft passiert. 

Zufriedenheit statt nur Ehrgeiz

Das Coronavirus hat jeden Bereich unseres Arbeitslebens durcheinandergebracht – aber vielleicht hat am meisten unser Ehrgeiz gelitten, der uns dazu bringt, morgens aufzustehen und überhaupt mit der Arbeit zu beginnen. Wir mussten uns Fragen stellen, die bis dahin Alltag einfach untergegangen sind, Fragen, auf die es nicht unbedingt einfache Antworten gibt. Wer bin ich? Warum mache ich das nochmal? Was will ich? Wenn nicht das, was sonst?  Dabei befinden sich Führungskräfte üblicherweise in einer privilegierten Position. 

Wir haben sind mit unsren Ambitionen zwar noch nicht am Ende. Menschen wollen immer Probleme lösen. Die Welt steht aber vor gewaltigen Herausforderungen in Bezug auf Erfolg: er lässt sich nicht mehr einfach ohne Rücksicht auf psychische Gesundheit, Umwelt und soziale Ungerechtigkeit definieren und durchsetzen. Die Menschen sind sich ihrer selbst viel bewusster geworden. Sie haben erkannt, dass wir Alle Teil von etwas Größerem sind. Menschen werden weiterhin ehrgeizig sein. Aber ich hoffe, nicht mehr nur, um des Egoismus willen. Zufriedenheit ist wichtiger denn je. 

Quelle:

Godwin, Richard: Why You’ve Lost Your Sense of Ambition (And Why That’s OK)

THE JOURNAL, 8 June 2021